„Anleitung, wie man ein Leben leben sollte: Sei aufmerksam. Lass dich verzaubern. Berichte darüber.“
Mary Oliver
Dieses Zitat von Mary Oliver, einer amerikanischen Dichterin, die für ihre klaren und einfühlsamen Beobachtungen der natürlichen Welt bekannt ist, fasst ihre Lebensphilosophie zusammen, die sich durch eine tiefe Wertschätzung für die Natur und die menschliche Erfahrung auszeichnet. Mary Oliver ermutigt, das Leben mit offenen Augen zu betrachten, uns von der Schönheit um uns herum inspirieren zu lassen und unsere Erlebnisse mit anderen zu teilen.
Ich versuche, dieser Anleitung zu folgen.
Seit meiner Kindheit in den wilden Gärten, Feldern und Wäldern des Ruhrgebiets habe ich gelernt, das Abenteuer in der Natur zu suchen und zu schätzen. Diese frühen Erfahrungen prägten meine Leidenschaft für das Draußensein, die Erkundung der Umgebung und das Eintauchen in die Schönheit der Natur. Es geht nicht darum, ferne Länder zu bereisen oder sich in extreme Situationen zu begeben, um sich lebendig zu fühlen. Wahre Abenteuer finden sich oft direkt vor unserer Haustür, in der Natur um die Ecke, die wir so leicht für selbstverständlich halten.
Das kleine Flüchten aus dem Alltag, dass uns erlaubt, die Verbindung zur Natur wiederherzustellen, ohne weit reisen zu müssen. Ob es ein Spaziergang durch den lokalen Wald, eine Übernachtung unter den Sternen oder das Beobachten der Sonnenaufgänge am Wasser ist, jedes dieser Erlebnisse dient als Erinnerung daran, dass Abenteuer überall auf uns warten.
Es ist mein Ziel, diese Momente mit anderen zu teilen, durch Fotos, Videos und Geschichten, die die Schönheit und (komplexe) Einfachheit der Natur hervorheben. Ich möchte inspirieren, die kleinen Wunder zu erkunden, die unsere Welt zu bieten hat, und zu zeigen, dass man kein Extremsportler oder Weltreisender sein muss, um das Leben in vollen Zügen zu genießen. Die besten Dinge im Leben sind oft die einfachsten – und ja, sie bringen uns ins Schwitzen, aber auf die schönste Weise.

Über mich
Ich bin gebürtiger Deutscher aus dem Rheinland/Ruhrgebiet — mit skandinavischen und britischen Wurzeln — und lebe in der Schweiz. Ich bin Manager in der Textilindustrie, mache Musik und liebe die Natur.
Geboren und aufgewachsen bin ich Anfang der 70er in einem sehr grünen Teil des Ruhrgebiets — man glaubt es kaum — in einer ländlichen Idylle, die aus grossen, wilden Gärten mit Obstbäumen und Blumen, tiefen Wäldern, weiten Feldern, Wiesen und Siepentälern bestand. Selbst Bauernhöfe waren in den 70ern dort noch zu finden, die tatsächlich Lebensmittel für die Region hergestellt haben.
Dort haben wir zum Beispiel unsere Milch gekauft bzw. damals wurde die noch vor die Tür gestellt, quasi die Anfänge des Lieferservice. Ein Gemüsebauer kam einmal die Woche mit einem Pritschenwagen durch die Straße gefahren, bimmelte seine Glocke und schrie laut „Kartoffeln!“. Dann hat meine Mutter mich dorthin geschickt, mit ein paar Mark in der Hand, und dann habe ich Kartoffeln gekauft. Die waren immer ziemlich schmutzig, direkt vom Acker, und der Mann sprach nie ein Wort. Viel gesprochen haben die hart arbeitenden Menschen damals nie, und für viel Freundlichkeit hat es auch oft nicht gereicht.
Übrigens: Das Ruhrgebiet hat heute mit Schwerindustrie, Kohlebergbau und rauchenden Schloten, für die es weltweit Bekanntheit erlangt hatte, nichts mehr zu tun. Die Siedlung, in der ich aufwuchs, steht heute insgesamt unter Denkmalschutz, was leider nichts daran ändert, dass heute dort nichts mehr so schön ist, wie es damals war bzw. wie ich es wahrgenommen habe.

Ein Lümmel
In meiner Kindheit hatte ich ein „Bonanzarad“ mit Bananensattel, zwei Boxer (nacheinander), einen grünen Wellensittich, lebte weitgehend unbekümmert und frei, hatte einen abenteuerlustigen besten Freund, und wir waren so gut wie nur draussen, „an der frischen Luft“. Unsere Eltern fanden das gut und richtig so, aber vor Allem bequem, denn wir kümmerten uns den ganzen Tag um uns selbst. Eigentlich waren wir nur zum Essen und Schlafen zu Hause.
Man brauchte uns nicht bespassen, verabreden, auf uns aufzupassen oder irgendwo hinfahren oder abholen. Wenn wir irgendwohin wollten oder mussten, nahmen wir den Fussbus, sprich: wir liefen. Wir lernten, selbstständig zu sein. „Böse Männer“ gab es damals auch, sie waren nur ein viel kleineres Thema, weil es noch kein Internet gab. Aber unsere Eltern warnten uns regelmässig davor und gaben uns Verhaltensregeln mit auf den Weg, die wir wirklich sehr ernst nahmen.

Wir waren den grössten Teil des Tages einfach „weg“. Niemand wusste wo, nicht selten auch wir selbst nicht. Abenteuer! Ständig gerieten wir in Situationen, die spannend bis tatsächlich gefährlich waren und von denen unsere Eltern nie etwas erfuhren. Bis heute nicht.
Den ganzen Tag über waren die Strassen voller Kinder. Für ein neues Abenteuer brauchte ich nur die Haustür zu öffnen und die Strasse zu überqueren, denn genau gegenüber war ein kleiner Wald, der mir als Kind riesig vorkam.

Ich habe einen 10 Jahre älteren Bruder, der mein Held war. Er war gross, stark und mutig, zumindest mit dem Mund, denn er hatte immer markige Sprüche drauf. Mein Bruder nannte mich entweder liebevoll „Bubi“, „Bübchen“ oder auch „Wursthaken“, denn ich war sehr dünn. Durch seine Art gab er mir das Selbstvertrauen, mich draussen gegen grössere, ältere Jungs zu wehren. Oft sagte er so etwas wie „geh jetzt da raus und …“, was mich motivierte, genau das zu tun. Bei den Müttern der älteren Jungs wurde ich dann ziemlich unbeliebt, weil ich mich nun energisch wehrte, und Verletzungen blieben nicht aus.
Erwachsene hatten damals keine Zeit für Kinder, aber mein Bruder schenkte mir ein bisschen davon, aber vor allem Aufmerksamkeit. Ich war ihm nicht lästig, jedenfalls hat er es sich nicht anmerken lassen. Er war mein Vorbild … und auf eine gewisse Weise wird er das immer bleiben, obwohl mir seine Fehlbarkeit heute natürlich sehr bewusst ist. Aber Kinder brauchen Vorbilder, Orientierungspunkte, und mein Bruder erfüllte diese Rolle während meiner ersten paar Lebensjahre recht intensiv. Diese Prägung hat mich lebenslang begleitet, und ich spüre sie auch heute noch jeden Tag.
Wir sammelten Erfahrungen, schürften uns die Haut auf und holten uns blutige Wunden, verstauchten uns die Gelenke, hauten uns gegenseitig „eine rein“, zerrissen unsere Klamotten, erlebten grosse Erfolge und bittere Niederlagen, lernten Konsequenzen kennen und Risiken einzuschätzen. Experimente waren an der Tagesordnung, und wir wurden zwangsläufig immer besser, in allem, was wir taten. Nach dem 25sten Versuch, die geklauten Kartoffeln im Feuer zu backen, hatten wir beim 26sten Mal den Bogen raus. Bis dahin haben wir jede Menge Kohle produziert. Aus Kartoffeln. Aber bei allen Lektionen, die wir zu lernen hatten, hatten wir vor Allem eines: Unverschämt viel Spass. Es gab kein Morgen, kein Gestern, keine Uhr, keine Sorgen… wir lebten nur im Jetzt. Eine Fähigkeit, die natürlich immer mehr verloren ging.
Computer, Spielekonsolen und Ähnliches gab es nicht, Fernsehen war sehr begrenzt. Man hatte nur drei Programme, in meinem Fall auch bis Ende der 70-er nur in aufregendem Schwarzweiss. Es wurde gegessen, was auf den Tisch kam, und geschaut, was im Fernsehen lief.
Es gab noch umbrafarbene „Fernsprechtischapparate“ (Telefone) mit Wählscheibe, eine Minute telefonieren kostete 23 Pfennig. Das war teuer, und wir telefonierten nur, wenn es wirklich wichtig war. Man fasste sich kurz, eine Art frühe Version von Twitter, als es nur 160 Zeichen erlaubte.
Die Vorstellung eines Smartphones spielte nur in Science-Fiction eine Rolle, weshalb wir für unsere Eltern nicht erreichbar waren. Niemand wusste, wo wir uns herumtrieben. Kein Google, kein GPS, kein Instagram, nichts dergleichen. Wir hatten nicht mal eine Uhr, den Job übernahm die Sonne und die Strassenlaternen. Die absolute Freiheit.
Davon spreche ich:
Fotos und Videos — damals noch „Film“ genannt — waren teuer und aufwändig. Fotos bedurften der Entwicklung, für Filme benötigte man einen Projektor und eine Leinwand. Kaum jemand machte sich die Mühe, Erlebnisse mit einer Kamera festzuhalten. Man musste es schon selbst erleben und von den Erinnerungen zehren!
Heute kann man die ganze Welt, wirklich bis in den letzten Winkel, im Internet erkunden und bekommt dabei oft einen verzerrten Eindruck von der Realität, weil Menschen Orte (und vor Allem sich selbst) gern besser darstellen, als sie sind. Das führt nicht selten dazu, dass einst wunderschöne Orte völlig überlaufen und touristisch kommerzialisiert sind. Südtirol hat im Jahr 2022 einen Bettenstopp beschlossen, um den Instagram-Massentourismus in verträgliche Bahnen zu lenken. Das muss man sich vorstellen: Menschen fliegen für ein Wochenende dahin, um bedeutungslose Fotos von sich selbst zu machen.
Es ist verständlich, wenn Menschen von Tourismus leben, ich finde das absolut in Ordnung. Komisch wird es, wenn sie an dem Ast sägen, auf dem sie sitzen.
War früher alles besser? Jain. Vieles ja, einiges nicht. Eine rein analoge Welt wünsche ich mir tatsächlich manchmal zurück.
Schule und Hausaufgaben waren langweilig und doof. So bauten wir lieber Baumhäuser, im Dickicht versteckte Höhlen, machten (viel zu grosse) Feuer, stahlen Obst in den Nachbarsgärten, waren Abenteurer, Entdecker und sowieso immer irgendwie die Grössten.
Wir sind auf Expeditionen in fremde Länder gegangen, das heisst, wir haben uns tatsächlich mehr als einen Kilometer von unserem Wohnhaus entfernt. Das Fahrrad war unser Expeditionsfahrzeug. Wir waren Lümmel, Strolche und ungezogene Burschen, selten — wie befohlen — zu Hause, wenn die Strassenlaternen angingen, und wir taten so ziemlich alles, was verboten war, waren aber gut darin, uns nicht erwischen zu lassen.
Während mein leiblicher Vater mir den Sport und kaufmännisches Gespür mit auf den Weg gab, hatte ich auch einen Stiefvater, ein weiteres Vorbild, der ein reiner Naturbursche war und sich am liebsten draussen körperlich betätigte. So richtig klischeehaft mit nacktem, verschwitztem Oberkörper; vorzugsweise im Winter, beim Holzhacken. Er war entsprechend durchtrainiert, zäh, und das, was man damals gern einen „richtigen Mann“ nannte. Wenn meine Mutter am Abend seine diversen Verletzungen versorgen wollte, tat er dies in echter John-Wayne-Manier als „ach, das sind doch nur Kratzer“ ab. Ich kannte ihn sein Leben lang stets braungebrannt, lederhäutig und wundersam schmerzresistent. Ich erinnere mich gut daran, wie er ein komplettes Wespennest nur mit einer Schaufel erledigte, dabei von unzähligen Wespen gestochen wurde, was ihn wenig beeindruckte.

Er war auch der Vorsitzende eines Angelclubs, zu dem ein ziemlich grosses Gewässer gehört (siehe Bild oben). Dort verbrachte er seine gesamte freie Zeit, und wenn ich nicht gerade mit meinen Freunden Unsinn machte, verbrachte auch ich meine Zeit dort und lernte von ihm alles über die Natur, Handwerk und was man heute ganz fancy „Bushcraft“ nennt. Würde er noch leben, würde er den Begriff albern finden.
Ich lernte, wie man Werkzeuge benutzt, Baumbestand pflegt, mit Holz arbeitet, das Angeln, den Umgang mit Tieren, Kochen und Grillen über dem Feuer, etc. … und das Wichtigste: Respekt vor der Natur und ihren Lebewesen. An besagtem Teich gab es unzählige, verschiedene Tierarten, mit denen ich täglich umzugehen lernte.

Schon zu einer Zeit, als die Ausbeutung und Zerstörung unserer Umwelt so gut wie gar nicht im allgemeinen Bewusstsein der Menschen angekommen war, lehrte er mich, dass wir abhängig von einer Balance mit der Natur sind, weil wir ein Teil dessen sind. Er brachte mir bei, dass das Leid eines jeden Tieres und jeder unnötige menschliche Eingriff in die natürlichen Prozesse immer zu einem Ungleichgewicht führt, welches auch Menschen zu spüren bekommen und den ganzen Organismus Erde beeinträchtigt.
Es gab keine Frage, auf die er keine Antwort hatte. Seine Sicht auf manche Dinge war damals oft unpopulär, und manche Leute fanden ihn schräg, rau und einsiedlerisch. Dabei war er grosszügig, tolerant, warmherzig, zuverlässig und loyal. Aber sehr konsequent, was bei Menschen, die ihn nicht richtig kannten, als schroff empfunden wurde.
Er war ein nicht immer einfaches Vorbild, ein spzieller Charakter, leider mit einem Alkoholproblem. Er wurde mit 17 Jahren in den Krieg geschickt und kam Jahre später aus der Kriegsgefangenschaft mit einer halben Lunge, und in der Heimat bereits für tot erklärt, wieder zurück. Traumatherapie oder sowas gab es damals nicht, Alkohol schon.
Das alles änderte nichts an seinem guten Kern. Nach jedem Suff konnte man ihn an seine Versprechen erinnern, die er stets einhielt. Das war Gesetz, niemals hätte er sein Wort gebrochen, an das er sich nicht selten selbst nicht mehr erinnerte.
Ich verdanke ihm den Zugang zu einer Welt, die den meisten anderen Kindern in meinem Alter verborgen blieb. Wir waren beide ein Fan von Bernhard Grzimek, dem deutschen Sir David Attenborough, und wenn die Zeit es zuliess, schauten wir stundenlang Naturfilme, die er auf VHS aufgezeichnet hatte.
Einmal schenkte er mir zum Geburtstag ein Pärchen Mandarinenten, die er aus China importierte (was damals noch ein verarmter Bauernstaat war). Kein Witz. Das fanden alle sehr schräg, ich war aber ziemlich begeistert von meinem exotischen Entenpärchen und lernte so, das männliche Tiere meist bunter und auffälliger sind als die weiblichen, damit die Weibchen von den Männchen beeindruckt sind und die Arterhaltung gesichert ist. Ausserdem brüten meist die Weibchen und müssen getarnt sein.
Durch die Umgebung, in der ich aufwuchs, und den Mentor, den ich hatte, wurde aus mir ebenso ein Naturliebhaber. Und deshalb wäre eine Beschreibung meiner Person nur halb so präzise, wenn ich ihn nicht erwähnen würde.
Mich als ein Teil der Natur in ihr aufzuhalten, die Verbindung mit ihr zu spüren, darum geht es mir hauptsächlich.
Meine Mutter sagt, ich bin ein „rastloser Globetrotter“. Sie hat vermutlich Recht. Ich habe fast überall in Deutschland, in Spanien und Südostasien gelebt, und mich generell nie lange an einem Ort aufgehalten. Ich musste immer wieder Neues entdecken. Jetzt lebe ich in der Schweiz, und ich denke nicht, dass das meine letzte Station ist…
BLACK IBEX?
Trail-Namen sind lustige, alberne oder ernsthafte Namen, die Wanderer entweder für sich selbst auswählen oder die ihnen von anderen Wanderern verliehen werden. Üblicherweise hat der Name einen Bezug zu einem Wandererlebnis oder zum Leben des Wanderers. Ich habe mir meinen Trail-Namen selbst verliehen.
So bedeutungsschwanger „BLACK IBEX“ anmuten mag, so einfach und wenig spektakulär ist seine Bedeutung: Sternzeichen Steinbock (lat. Ibex), bevorzugte Farbe, mit der ich auch unterwegs bin: Schwarz.
Tatsächlich sagt man mir einige, typische Eigenschaften des Steinbocks nach, ob man nun Astrologie für Nonsens hält oder nicht:
Ich bin zäh und genügsam, willensstark und ausdauernd. Und ich mag Dunkelheit, auch die innere, wenn Du verstehst, was ich meine. Insofern passt das Schwarze doppelt.
Wozu das Ganze?
Manche fahren Motorrad, sammeln Bierdeckel oder gehen ins Fussballstadion. Ich bin so oft wie möglich draussen, streife durch die Natur und erlebe Abenteuer, liebe moderne Technik, mache Fotos und Videos und erfreue mich daran, andere daran teilhaben zu lassen. Ich kann stundenlang aufs Wasser, Feuer oder Berge schauen, ohne an irgendetwas zu denken. Einfach sein. Das gibt mir Energie für den „offiziellen“ Teil des Lebens, das ist mein Ausgleich und meine Therapie.
Dir wünsche ich, dass auch Du so etwas in deinem Leben findest oder bereits gefunden hast.
Natur
Als menschliche Tiere sind wir ein Teil dieser Erde. Unser Alltag, unsere Häuser und Städte sind nicht natürlich. Sobald es dunkel wird, ist überall künstliche Beleuchtung, und wir müssen das Licht ausschalten, um Dunkelheit zu erleben. In städtischem Leben hat es keine natürlichen Tagesabschnitte, in denen man Zeuge täglicher Naturphänomene wird, zum Beispiel, wenn die Vögel vor Sonnenaufgang anfangen zu singen, Hähne krähen, glitzernder, gefrorener Tau am Gras funkelt, nachmittags bestimmte Insekten durch die Luft tanzen.
In der Natur siehst du, wie das Gras grün und dann grau wird, du siehst zu, wie Pflanzen gedeihen und sterben. Dein Gehirn sagt dir, wie das Leben funktioniert. Ich denke, es macht einem weniger Angst vor dem Sterben, wenn man sieht, wie alles stirbt und sich jedes Jahr erneuert, und man es anfassen kann. Du bekommst ein Gefühl dafür, mit welcher Geschwindigkeit du dich eigentlich bewegen solltest.
Das Stadtleben, das Online-Leben und das Smartphone-Leben überlastet unsere Gehirne und Systeme. Die Leute schreiben kurz vor dem Schlafengehen WhatsApp und bekommen nicht mit, wie draussen, wo es dunkel wird, alles abkühlt und alles auf natürliche Weise einschläft und zur Ruhe kommt.
YouTube
Ab 1987 gab es im deutschen Fernsehen einmal die Woche „Pleiten, Pech und Pannen“. Der eine oder andere mag sich erinnern. Moderiert wurde von einem etwas gefälligen und eher unwitzigen Moderator mit Föhnfrisur (Max Schautzer). Schautzer präsentierte Pannen und Missgeschicke, die Amateurfilmer mit der Videokamera aufgenommen und (per Post, auf Tape) eingeschickt haben. Am Ende jeder Show wurde „Deutschlands lustigster Videofilm“ vom Studiopublikum gewählt und mit dem „Goldenen Raben“ und Geld prämiert.
Damals war dieses Videomaterial Gold. Diese perfekten Momente eines komödiantischen menschlichen Unfalls wurden nur selten auf Video festgehalten, weil Camcorder ein teurer Luxusartikel waren. Die besten Camcorder-Clips konzentriert an einem Ort zu haben, war etwas Besonderes.
Wie bei allen höchst erfreulichen Dingen war das Angebot nur sehr begrenzt. Es gab nur diese wenigen Minuten pro Woche. Danach musste man wieder eine Woche warten.
Heute gibt es diese Verbrauchsgrenzen nicht. Du kannst dir den ganzen Tag Videos ansehen, in denen Menschen ständig irgendetwas Komisches passiert. Jeder filmt ständig alles, und TikTok und Instagram bieten endloses Scrollen durch unzählige Videos. Lastwagenladungen von dem, was einst nur in dieser — damals einzigartigen — wöchentlichen Sendung verfügbar war.
Meine Theorie ist, dass, obwohl das Angebot an solchen Inhalten seit dem Aufkommen des Kamerahandys um das X-und-Drölfzigfache gestiegen ist, die Nachfrage nach solchen mühelos konsumierbaren Inhalten in letzter Zeit um lächerliche Ausmasse gestiegen ist — insbesondere seit März 2020. Als die Corona-Pandemie zuschlug, waren Hunderte Millionen Menschen plötzlich zu Hause, gelangweilt und unglücklich, und begannen, weit mehr von dieser Art von bildschirmbasierter Befriedigung mit niedrigem Einsatz zu konsumieren als je zuvor. Selbst mit Milliarden von Menschen werden nur wenige wirklich gute Aufnahmen produziert, und die reichen nie aus, um den grenzenlosen Appetit gelangweilter Menschen zu stillen, selbst wenn sie täglich durch Hunderte Videos swipen (damals hiess das „zappen“).
Ich durchschaue derartigen Bullshit, weil ich im Jahr 1973 geboren bin und immer noch weiss, wie das wirkliche Leben aussieht. Ich weiss zum Beispiel, wie Menschen auf reale Situationen reagieren, denn obwohl ich im Zeitalter des Fernsehens aufgewachsen bin, habe ich immer noch viel mehr Zeit in meiner Jugend damit verbracht, die Realität zu beobachten, als mit fabrizierten Darstellungen der Realität. Junge Menschen heute haben nicht so viel Glück.
Was passiert in einer Zeit, in der kulturelle Inhalte in so gewaltigen Mengen generiert und konsumiert werden, dass der größte Teil der Realität eines Menschen aus dem Konsumieren ebendieser Inhalte besteht? Und was passiert, wenn viele dieser Inhalte die Realität überhaupt nicht abbilden?
Vielleicht gefällt dir — beispielsweise — ein Podcast über eine Fernsehsendung, die auf einem Buch basiert, das auf irgendwelchen interessanten Ideen basiert. Die Realität, der ursprüngliche Bezugspunkt für all dies, ist in den Köpfen und im Leben der Menschen immer weiter entfernt und wird immer undurchsichtiger.
Deshalb versuche ich, Videos zu produzieren und Fotos zu schiessen, die etwas Echtes, Schönes und durch dich selbst Erlebbares zeigen. Die Realität kann sehr schön sein, man muss sie nicht faken, und du kannst das alles selbst erleben. Ich kann die 70er nicht zurückbringen, aber ich kann immer noch durch die Natur streifen, und ich kann dich dabei in echten Videos mitnehmen.
Dabei geht es nicht um mich. Auch, wenn ich zu sehen bin, so ist der Hauptdarsteller immer die Natur, in Bild und Ton, und ich bin immer nur eine wenig bis gar nicht sprechende Requisite.